Neuroadaption: multifokale Kontaktlinsen und IOLs

Artikel teilen
Autor
1*Pennsylvania College of Optometry at Salus University, Augen- und Sehzentrum Optometrie Cagnolati GmbH

36,9 Prozent der Weltbevölkerung war im Jahr 2020 älter als 40 Jahre.1 Das erwartete Durchschnittsalter in den Industrienationen für die Zeitspanne von 2025 bis 2030 wird mit 80,6 Jahre prognostiziert; für die Entwicklungsländer geht man für die gleiche Zeitdauer von 73,7 Jahre und für die am wenigsten entwickelte Länder von 67,6 Jahre aus.1 Der prozentuale Anteil an Trägern von Mehrstärken-Kontaktlinsen ist trotz des genannten hohen Anteils Presbyoper an der Weltbevölkerung, dennoch immer noch relativ gering. Obwohl William Feinbloom schon 1936 als Erster ein Patent für die Herstellung einer bifokalen Kontaktlinse erhielt,2 existieren heute immer noch offene Fragen im Zusammenhang mit der Akzeptanz gerade simultaner Mehrstärkensysteme. Dies gilt gleichermaßen für Mehrstärken-Kontaktlinsen als auch Mehrstärken-Intraokularlinsen. Die in diesem Kontext zentrale Frage ist die Neuroadaptation, worunter wir vereinfacht die Plastizität des Gehirns bei der Verarbeitung visueller Reize verstehen.3 Grundsätzlich entstehen bei simultanen Mehrstärkensystemen in der Regel zwei oder mehrere sich überlagernde Netzhautbilder und der Patient ist gefordert, das jeweils unscharfe Bild zu unterdrücken. Diese sogenannte „physiologische Retusche“ oder „Neuroadaptation“ ist der wesentliche Faktor in der Akzeptanz simultaner Mehrstärkensysteme. In der klinischen Praxis informieren deshalb Optometristen und Ophthalmologen die betroffenen Patienten hierüber und nennen gerade im Bereich der multifokalen Intraokularlinsen Adaptationszeiten von bis zu sechs Monaten. Die Frage der unterschiedlichen Länge der Neuroadaptation oder gar die Nichtakzeptanz simultaner Mehrstärkensysteme hängt sicherlich vom jeweiligen Linsensystem aber auch dem individuellem Patienten ab. Hier hat es gerade in den letzten Jahren durch die Vielfalt neuer Designs im Bereich simultaner Linsensysteme sowohl für Kontaktlinsen als auch IOLs große Fortschritte gegeben. Trotz allem aber konnte die wichtige Fragestellung, welche Linse für welchen Patienten bis heute nicht zufriedenstellend gelöst werden, weshalb die Neuroadaptation immer mehr im Zentrum vieler aktueller Forschungs­aktivitäten steht.4

Inwieweit die Qualität des Binokularsehens einen Einfluss auf die Akzeptanz multifokaler Kontaktlinsen und damit auch die Neuroadaptation hat, untersuchte Cagnolati schon im Jahr 1993 5 in seiner Studie „Acceptance of different multifocal contact lenses depending on binocular findings“. Neuere interessante Arbeiten im Zusammenhang mit der Neuroadaptation publizierten unter anderem Fernandes et al.6 sowie Rosa et al.7 mit ihrer Studien „Short-term delay in neural response with multifocal contact lens might start at the retinal level“ und „Functional magnetic resonance imaging to assess neuroadaptation to multifocal intraocular lenses“. Die Versorgung presbyoper und aphaker Patienten mit multifokalen Kontaktlinsen oder IOLs erfordert eine sorgfältige und differenzierte Information über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Versorgungsart. Gerade die seriöse Aufklärung bezüglich einer möglicherweise längeren Eingewöhnungszeit in Verbindung mit der jeweiligen Versorgungsart ist ein entscheidender Faktor in der späteren Zufriedenheit der Patienten.


Literaturverzeichnis

[1] Ang, C. (2021). Visualizing the World’s Population by Age Group. https://www.visualcapitalist.com/ the-worlds-population-2020-by-age. Referencing: 11 September 2023.

[2] Toshida, H., Takahashi, K., Sado, K., Kanai, A., Murakami, A. (2008). Bifocal contact lenses: History, types, characteristics, and actual state and problems. Clin. Ophthalmol., 2, 869-877.

[3] Zhang, L., Lin, D., Wang, Y., Chen, W., Xiao, W., Xiang, Y., Zhu, Y., Chen, C., Dong, X., Liu, Y., Chen, W., Lin, H. (2021). Comparison of visual neuroadaptations after multifocal and monofocal intraocular lens implantation. Front. Neurosci., 15, 648863.

[4] Alio, J. L., Pikkel, J. (2019). Multifocal Intraocular Lenses: Neuroadaptation. Multifocal Intraocular Lenses. In: Multifocal Intraocular Lenses (eds. Alio, J. L., Pikkel, J.) Springer Nature.

[5] Cagnolati, W. (1993). Acceptance of different multifocal contact lenses depending on binocular findings. Optom. Vis. Sci., 70, 315-322. 

[6] Fernandes, P., Ferreira, C., Domingues, J., Amorim-de-Sousa, A., Faria-Ribeiro, M., Queirós, A., González-Meijome, J. M. (2022). Short-term delay in neural response with multifocal contact lens might start at the retinal level. Doc. Ophthalmol., 145, 37-51.

[7] Rosa, A. M., Miranda, A. C., Patrício, M. M., McAlinde, C., Silva, F. L., Castelo-Branco, M., Murta, J. N. (2017). Functional magnetic resonance imaging to assess neuroadaptation to multifocal intraocular lenses. J. Cataract Refract. Surg., 43, 1287-1296.

Das Bild zeigt Wolfgang Cagnolati

Über Wolfgang Cagnolati

DSc* MSc* FCOptom FAAO - *Pennsylvania College of Optometry at Salus University, Augen- und Sehzentrum Optometrie Cagnolati GmbH

Wolfgang Cagnolati praktiziert klinische Optometrie in Duisburg und ist darüber hinaus Visiting Associate Professor am Pennsylvania College of Optometry sowie Lehrbeauftragter an der Berliner Hochschule für Technik.