Interview
Im Gespräch mit Prof. Dr. Holger Dietze
Herr Dietze, in der aktuellen Optometrie & Contact Lenses (OCL) publizieren wir wieder wissenschaftliche Arbeiten, die an Hochschulen mit Optometrie Studiengängen entstanden sind. Warum ist die Publikation solcher wissenschaftlicher Arbeiten für Hochschulen und Autor*innen in Peer-Review-Journalen wie die OCL so wichtig?
Ein Studium an einer Hochschule oder Universität unterscheidet sich nicht zuletzt deshalb von einer Berufs- oder Fachschulausbildung, weil hier ein wissenschaftlicher Anspruch besteht. Dieser wird ja auch durch die entsprechenden Qualifikationen, wie beispielsweise Bachelor of Science oder Master of Science, deutlich gemacht. Hinter einer mehr oder weniger stark ausgeprägten wissenschaftlichen Ausbildung steckt die Absicht, junge Menschen durch akribisches, systematisches und vor allem selbstständiges Arbeiten zu Personen heranzubilden, die sich mit komplexeren Aufgaben kritisch auseinandersetzen und diese eigenverantwortlich lösen können. Das wissenschaftliche Arbeiten ist jedoch ein langwieriger und oft mühsamer Prozess, und der Aufwand wird selten ausreichend erkannt oder gar gewürdigt, weil die Fachöffentlichkeit meist nichts davon erfährt. Insofern ist die Publikation der Ergebnisse einer Abschlussarbeit auf einem Kongress oder in einem Journal eine prima Möglichkeit, die Erkenntnisse zu verbreiten und in den Beruf umzusetzen. Der Peer-Review-Prozess sorgt über unabhängige Gutachter dafür, dass das Manuskript oder der Vortrag bestimmte wissenschaftliche Ansprüche erfüllt und dass die Fachwelt nur von Experten geprüfte Inhalte erfährt. Das unterstreicht nicht nur den Anspruch an die Autoren oder Referenten, sondern ist zugleich ein besonderes Qualitätsmerkmal eines Journals oder Fachkongresses. Über das wissenschaftliche Arbeiten bis hin zur Publikation sind die Hochschulen aktiv an der Entwicklung von beruflichen Handlungssträngen, Arbeitsrichtlinien oder Behandlungsempfehlungen beteiligt und leisten so einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines eigenständigen Berufsbildes. Es wäre außerdem schade und unverantwortlich, wenn junge Leute nicht ausreichend für ihr künftiges Arbeitsumfeld ausgebildet werden würden, denn wissenschaftliche Aspekte spielen heute bei vielen Jobs eine wichtige Rolle.
Im Gegensatz zu den klassischen Universitäten liegt der Schwerpunkt der Forschung an Hochschulen für angewandte Wissenschaften, hierzu gehören ja die deutschen Hochschulen mit Optometrie-Studiengängen, in der anwendungsbezogenen Forschung. Wo liegen die Forschungsschwerpunkte an der Berliner Hochschule für Technik in Ihrem Fachbereich?
Anders als die Universitäten besitzen Hochschulen (noch) kein Promotionsrecht. Wissenschaftliches Arbeiten an größeren Projekten über längere Zeiträume hinweg ist deshalb an Hochschulen noch immer eine Seltenheit. Dementsprechend handelt es sich bei den Abschlussarbeiten an den Hochschulen meist um kürzere Projekte mit wechselnden, überschaubaren Fragestellungen. Eine Ausnahme bildet hier die Hochschule Jena auf dem Gebiet der Kontaktlinsen, weil hier hauptamtliche Forscher in einem der Hochschule angeschlossenen Institut Auftragsforschung für die Industrie betreiben. Dennoch gibt es
sicherlich an jeder Hochschule beliebtere Themen, die sich aus der Tradition oder aus besonderen Erfahrungen oder Interessen der betreuenden Professoren oder der ortsansässigen Industrie ergeben. Mit einem Schwerpunkt im Bereich des Binokularsehens folgt die Berliner Hochschule ihrer Vorgängereinrichtung SFOF, an der Hans-Joachim Haase gelehrt und seine Methode zur Binokularprüfung (MKH) entwickelt hat. Ich darf mit etwas Stolz berichten, dass der Rupp + Hubrach Wissenschaftspreis 2024 für eine Arbeit auf dem Gebiet des Binokularsehens nach Berlin ging und dass ein Berliner Master-Absolvent aktuell in einem hochinteressanten Promotionsprojekt an der Universität Bonn auf dem Gebiet des Binokularsehens forscht.
Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei meistens um anwendungsbezogene Forschung handelt. Jeder Anwender von speziellen Untersuchungsverfahren oder -geräten kann nachvollziehen, dass diese ganz oft auf Forschungsergebnissen von nationalen oder internationalen Hochschulen oder Universitäten basieren. Das nützt nicht nur den Hochschulen, sondern dient auch der Produktentwicklung und hilft damit der Industrie. Aktuelle und gut nachvollziehbare Beispiele sind die Erkenntnisse und Geräte zur Myopieprävention oder zum Trockenen Auge. Diese stammen allerdings nicht aus Berlin.
In der aktuellen OCL publizieren wir Arbeiten zu den Themen „Einfluss von Kochsalzlösungen auf weiche Kontaktlinsen“, „Stereopsis im Straßenverkehr“ und „Einfluss des Astigmatismus auf die Stereopsis“. Zwei dieser Publikationen sind an der Berliner Hochschule für Technik (BHT) entstanden. Die dritte Publikation hat ihren Ursprung an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und am JENVIS Research GbR. Repräsentieren die Themen der Publikationen klassische Inhalte der deutschen Bachelor- und Masterstudiengänge im Bereich der Optometrie und wenn ja, warum?
An diesen Themen lässt sich sowohl die weiter oben angesprochene Vielfalt der Forschungsthemen an den Hochschulen als auch die Anwendungsbezogenheit gut erkennen. Dass die Themen sogar zu den Forschungsschwerpunkten der beiden Hochschulen passen, betrachte ich eher als einen Zufall.
Schaue ich mir die Forschungsschwerpunkte und Inhalte angelsächsischer Universitäten mit Optometrie-Studiengänge an, so ist das Forschungsspektrum, der Forschungsumfang aber auch das Forschungsinteresse oft viel umfangreicher als dies an unseren deutschen Hochschulen der Fall ist. Nun haben Sie sowohl in Deutschland als auch in den USA und UK studiert. Was könnte der Grund hierfür sein?
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu den mir bekannten Gründen gehört, dass die britischen und amerikanischen Studiengänge sehr viel länger existieren, als die Studiengänge für Augenoptik und/oder Optometrie an deutschen Hochschulen und dass es sich bei den britischen und amerikanischen Kollegen um universitäre Studiengänge mit Promotionsrecht handelt. Erst dadurch werden längere und damit tiefergreifende Projekte möglich und finanzierbar. Zudem muss in diesen Ländern jeder Optometrist ein Universitätsstudium durchlaufen und sich kontinuierlich fortbilden. Das schafft eine enorm große Community, in welcher Wissenschaft und vor allem das Praktizieren nach wissenschaftlichen Erkenntnissen selbstverständlich ist.
Die wissenschaftliche und klinische Ausbildung für Optometrist*innen an angelsächsischen Universitäten hat nach meiner Meinung wesentlich zur Entwicklung der Optometrie in diesen Ländern beigetragen. Für wie wichtig halten Sie eine eigene Theoriebildung im Kontext der Professionalisierung eines Berufes?
Hier haben Sie zwei wesentliche, aber sehr verschiedene Grundlagen für einen professionellen Beruf angesprochen. Zumindest in akademischen Kreisen wird ein Beruf erst dann als eigenständig anerkannt, wenn es eine eigene theoretische Grundlage für diesen gibt. Dass diese, besonders bei Gesundheitsberufen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen muss, ist dabei selbstverständlich. Kaum jemand möchte sich mit einer Therapie oder einem Medikament behandeln lassen, deren Wirksamkeit und deren Nebenwirkungen nicht gründlich erforscht sind. Und gerade weil es in der deutschen Augenoptik in Vergangenheit und Gegenwart nur wenige wissenschaftlich ausgebildete Kollegen gab und gibt, haben sich hierzulande mitunter Theorien und Vorgehensweisen verbreitet, für die wir als Berufsstand von den Kollegen im Ausland oder von anderen akademischen Berufsgruppen – milde gesagt – belächelt werden und die unserer Anerkennung als eigener Berufsstand eher schaden. Mit der klinischen Ausbildung ist dagegen die Ausbildung am Patienten gemeint. Dazu müssen Studierende während des Studiums eine größere Anzahl von Personen mit Sehstörungen oder okulären Erkrankungen untersuchen und mit einer Sehhilfe versorgen. Der Sinn lässt sich an einem einfachen Beispiel erklären: Niemand würde sich gerne von einem jungen Arzt untersuchen lassen wollen, der in seiner Ausbildung gar keinen echten Patienten hat. Erst die Lehre am Patienten führt die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen – hier lernen Studierende zuzuhören, das Wesentliche herauszufiltern, Untersuchungen unter Alltagsbedingungen durchzuführen, Entscheidungen abzuwägen sowie Ergebnisse zu dokumentieren und zu kommunizieren.
Wenn wir in diesem Zusammenhang von eigener Theoriebildung sprechen, gehören hierzu auch national und international respektierte Fachjournale. Einer der Gründe für die Etablierung der Fachzeitschrift „Optometry & Contact Lenses (OCL) war und ist, deutschen Klinikern, Wissenschaftlern und Hochschulabsolventen aus dem Bereich der Optometrie ein internationales Forum für die Publikation ihrer Forschungsergebnisse zu bieten. Wie wichtig ist in diesem Rahmen Ihrer Meinung nach die OCL?
Die OCL ist die einzige Fachzeitschrift mit einem wissenschaftlichen Anspruch und deshalb ein Leitmedium für alle Berufskolleginnen und -kollegen, denen die Arbeit nach wissenschaftlichen Erkenntnissen am Herzen liegt. Sie ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem anerkannten akademischen Berufsbild und zeigt, dass wir in unserem schönen Beruf und in unserer Medienlandschaft nicht nur schöne Menschen mit schönen Brillen schätzen, sondern auch Hartholz raspeln können!
Meine letzte Frage beinhaltet die Promotion von Absolvent*innen unserer Hochschulen mit Optometrie Studiengängen. Während in früheren Jahren deutsche Promovenden in den meisten Fällen an angelsächsischen Universitäten ihr Promotionsstudium absolvierten, finden wir seit einiger Zeit immer mehr Doktorand*innen an deutschen Universitäten. Wie sieht dies aktuell in Berlin aus? Wie gut ist die Kooperation mit Berliner oder anderen Universitäten?
In der Tat gab es in Sachen Promotion eine positive Entwicklung, auch wenn die Hochschulen selbst gar kein Promotionsrecht haben. Mittlerweile sind einige Studiengänge gut etabliert und werden in der akademischen Welt wahrgenommen. So konnten einige Promotionen über individuelle Kooperationen, zum Beispiel mit der Berliner Charité oder mit der Universität Bonn, auf den Weg gebracht werden. Andererseits haben sich einige pfiffige Absolventen selbst auf den Weg gemacht und sich an einer geeigneten Uni erfolgreich für ein Promotionsprojekt beworben. Einen größeren Coup konnten die Kollegen von der Ernst Abbe Hochschule in Jena in Form eines langjährigen Kooperationsvertrages mit der TU Ilmenau landen. Aus diesem sind eine Reihe promovierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hervorgegangen, die heute einen wichtigen Beitrag für die augenoptische Bildungslandschaft oder für die Industrie leisten. Darüber hinaus nehmen die Verhandlungen zum Promotionsrecht an Hochschulen zumindest im Land Berlin langsam Gestalt an. Wenn die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren stark genug ist und die Ausgaben für die Landesverteidigung gleichzeitig klein genug bleiben, dürfen wir hier auf eine weitere positive Entwicklung hoffen.