Myopie-Management bei Kindern: Delphi-Konsensbericht 2024 für Großbritannien und Irland
Zweck: Angesichts der zunehmenden Prävalenz werden die Myopie und ihre Behandlung zu einem immer wichtigeren Thema im Berufsportfolio von Optometristen, Augenoptikern und Augenärzten. In dieser Übersichtsarbeit werden die Ergebnisse des jüngsten Konsensberichts zum Myopie-Management bei Kindern und Jugendlichen in Großbritannien und Irland zusammengefasst und mit Empfehlungen in Deutschland und Europa sowie mit internationalen Leitlinien verglichen.
Material und Methoden: In dieser narrativen Übersichtsarbeit wird auf die Kernaussagen des Berichts eingegangen, die sich aus dem Konsens ergeben, den die Expertengruppe in Online-Meetings, Diskussionen und Befragungen erzielt hat.
Ergebnisse: Der Konsensbericht enthält Empfehlungen zur Beurteilung, Behandlung und Überwachung von Myopie bei Kindern und Jugendlichen. Zu den Kernaussagen zählt die Empfehlung, dass Kinder mit einer früh einsetzenden hohen Myopie und Merkmalen, die auf Grunderkrankungen schließen lassen, zu weiteren Untersuchungen an einen Augenarzt überwiesen werden sollten. Kinder, die am meisten von einem Myopie-Management profitieren könnten, sind jene mit der schnellsten Myopie-Progression, das heißt Kinder unter 13 Jahren. Optische Korrekturen, zum Beispiel mit Brillengläsern, die in der Peripherie eine stärkere Pluswirkung haben, oder mit Kontaktlinsen gelten als Erstbehandlungsoptionen; niedrig dosierte Atropin-Augentropfen können unter Umständen eine Option sein, sobald sie im Handel erhältlich sein werden. Änderungen des Lebensstils wie längere Aufenthalte im Freien werden als Maßnahmen zur Verzögerung des Beginns der Myopie und zur Verlangsamung der Myopie-Progression empfohlen; zum Thema Naharbeit und optimale Ausleuchtung bei Myopie bedarf es jedoch noch weiterer Forschungen. Die Expertengruppe unterstrich auch, wie wichtig ein gleichberechtigter Zugang zu Behandlungen ist – vor allem im Hinblick auf die Finanzierung von Maßnahmen im Rahmen des Myopie-Managements.
Fazit: Da sich die Evidenzlage zur Wirksamkeit und Effektivität von Maßnahmen im Rahmen des Myopie-Managements bei europäischen Populationen verbessert, zeigt sich auch eine immer größere Übereinstimmung bei den Empfehlungen für die Praxis.
Purpose: With rising prevalence, myopia and its management are becoming an increasing important topic in the professional portfolio of optometrists, opticians and ophthalmologists. This article aims to provide a summary of the recent United Kingdom (UK)/Ireland consensus on myopia management in children and adolescents, and to place it in perspective by comparing its recommendations with German, European and International guidelines.
Material and Methods: This narrative review highlights key statements resulting from the consensus, which used online meetings, discussions and surveys to build agreement.
Results: The UK/Ireland consensus offers recommendations for assessment, management and monitoring of myopia in children and young people. Key statements include that children with early-onset high myopia and features suspicious of underlying conditions should be referred to an ophthalmologist for further investigations. Children who may benefit most from myopia management interventions are those with fastest progression, i.e. those under the age of 13 years. Optical interventions, such as peripheral-plus spectacles or contact lenses, are considered first-line treatments, and low-concentration atropine may be an option once available commercially. Lifestyle modifications such as increasing the time spent outdoors are recommended to delay myopia onset and slow progression, though more research is needed on near-work and lighting conditions. The panel also emphasized the importance of equitable access to treatments, especially in light of financial barriers.
Conclusion: As evidence on effectiveness and efficacy of myopia management interventions in European populations is building, recommendations for practice show increasing alignment.
Einleitung
Die Prävalenz der Myopie nimmt weltweit zu, wobei in ostasiatischen Staaten die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen signifikant steigt. In den westlichen Ländern ist die Tendenz unterschiedlich: Die Prävalenz der Myopie beträgt dort zwischen ca. 8 % bei jüngeren schulpflichtigen Kindern in Deutschland 1,2 und ca. 29 % bei 12- bis 13-jährigen Kindern in Großbritannien.3,4,5 Das Myopie-Management bei Kindern wird ein immer wichtigeres Thema für Augenspezialisten in der Primärversorgung, das heißt für Optometristen, Augenoptiker und pädriatische Augenärzte.6 Aufgrund des zunehmenden Interesses und der verschiedenen zur Verfügung stehenden Optionen wird zurzeit mehr Forschung als je zuvor im Bereich Myopie betrieben; deshalb kann es für viel beschäftigte Kliniker unter Umständen schwierig sein, aus der veröffentlichten Fachliteratur Details und den Gesamtzusammenhang herauszufiltern. So hat beispielsweise eine Literaturrecherche mit PubMed nach Artikeln mit dem Schlüsselwort „Myopie“ ergeben, dass die Anzahl der jährlich veröffentlichten Artikel beinahe exponentiell angestiegen ist, und zwar von 523 im Jahr 2000 auf 2.262 im Jahr 2024 (Bild 1).
In Großbritannien und Irland wurde von einer Expertengruppe aus Forschern und Klinikern eine Delphi-Befragung mit dem Ziel durchgeführt, einen Konsens zu einem breiten Fragenspektrum im Zusammenhang mit Myopie zu finden.7 Es sollten Empfehlungen speziell für die Situation in Großbritannien und Irland ausgearbeitet werden, wo die primäre Augenversorgung einschließlich Myopie-Management bei Kindern 9 durch Optometristen in den Gemeinden und in Innenstadtpraxen erfolgt.8 In anderen europäischen Ländern haben Optometristen zurzeit weitaus weniger Autonomie bei der Verordnung von Brillen und Kontaktlinsen (European Journal of Ophthalmology, EJO, Manuskript eingereicht); aufgrund der Entwicklung der Myopie-Prävalenz wird ein Myopie-Management bei Kindern jedoch immer häufiger erforderlich sein, sodass Optometristen auf mehr Anfragen von möglicherweise besorgten Eltern vorbereitet sein sollten.
In dieser Übersichtsarbeit werden die Ergebnisse einer Konsensbefragung von Experten zum Thema Myopie-Management bei Kindern in Großbritannien und Irland zusammengefasst; die Empfehlungen dieser Gruppe werden mit Richtlinien in Deutschland und Europa sowie mit internationalen Leitlinien verglichen.10,11,12,13
Material und Methoden
Für die hier vorliegende narrative Übersichtsarbeit wurden die Hauptpunkte des kürzlich veröffentlichten Konsensberichts zum Myopie-Management bei Kindern in Großbritannien und Irland zusammengefasst. Die mehrstufige Expertenbefragung erfolgte nach einer modifizierten Delphi-Methode, die folgende Schritte umfasste:14,15 Einführungsmeeting zur Festlegung von Format, Arbeitsabläufen, Umfang und Themenbereichen; vier schriftliche, anonyme, webbasierte Online-Befragungsrunden, die mit einer kommerziellen Delphi-Software durchgeführt wurden; Erhebung der Expertenmeinungen zum Thema mit der Online-Befragungsplattform Welphi (welphi.com) (1. Befragungsrunde); Überdenken der Meinungen mit möglicher Anpassung der Einschätzungen (2. Befragungsrunde); Abstimmung zu allen Themenpunkten (3. und 4. Befragungsrunde). Es fand ein zweites Expertenmeeting statt, um jene Punkte zu erörtern, bei denen kein Konsens erzielt worden war, und um die Schlussabstimmung durchzuführen. Die Schwellenwerte für einen Konsens waren schon vorher festgelegt worden.14,15
Ergebnisse
Wie sollte Myopie definiert werden?
In dem Konsensbericht 2024 für Großbritannien und Irland wird empfohlen, die vom International Myopia Institute (IMI) vorgeschlagenen Definitionen und in Zykloplegie gemessenen Refraktionsschwellenwerte zu übernehmen: −0,50 dpt beziehungsweise −6,00 dpt mittleres sphärisches Äquivalent für Myopie beziehungsweise hohe Myopie.10
Wie wichtig ist ein gleichberechtigter Zugang zu neuen Behandlungsmethoden?
Grundsätzlich sollten öffentliche Mittel bereitgestellt und weitere epidemiologische Forschungsarbeiten durchgeführt werden, um die Evidenzlage der Prävalenz, der Progression und des Schweregrads der Myopie in europäischen Ländern verbessern zu können. Die Expertengruppe bewertete die publizierte Evidenz, die derzeit zur Wirksamkeit/Effektivität von neuen Behandlungsmaßnahmen bei Myopie vorliegt, für eine Empfehlung dieser Methoden als ausreichend fundiert.7
Wie sollten Kinder und Jugendliche mit Myopie beurteilt werden und wer sollte an einen Augenarzt überwiesen werden?
Optometristen/Augenoptiker sollten bei der Anamnese folgende Informationen erheben: Vorliegen einer Familienvorgeschichte von Myopie und hoher Myopie; Vorliegen einer Frühgeborenen-Retinopathie (RPM) oder anderer relevanter systemischer Erkrankungen sowie anderer Befunde und Syndrome. Folgende Kinder/Jugendliche sollten zur weiteren Untersuchung an einen Augenarzt überwiesen werden: Kinder und Jugendliche mit Myopie, deren bestkorrigierte Sehschärfe bei mehr als einer Augenuntersuchung für ihr Alter signifikant herabgesetzt ist, und Kinder unter zehn Jahren mit hoher Myopie sowie Merkmalen, die möglicherweise auf eine Grunderkrankung schließen lassen.2
Welche Empfehlungen zu Lebensstil und welche Verhaltenstipps kann man geben?
Durch den Aufenthalt im Freien kann der Beginn der Myopie möglicherweise verzögert und das Fortschreiten der Myopie unter Umständen in einem geringen Ausmaß aufgehalten werden. Wie lange sich Kinder im Freien aufhalten sollen, ist noch ungeklärt, aber bei zwei Stunden pro Tag dürfte sich das Myopie-Risiko verringern. Laut Expertengruppe ist die Evidenzlage zu spezifischen Arbeitsabständen, wie 30 cm oder mehr Abstand zwischen Augen und Buch/Bildschirm, oder zu „guter Beleuchtung“ am Schreibtisch immer noch nicht ausreichend für Empfehlungen.7
Wann und wie sollte mit der Myopie-Behandlung/Myopie-Kontrolle begonnen werden?
Die Expertengruppe war sich einig, dass Behandlungsmaßnahmen im Rahmen eines Myopie-Managements mit den Eltern jener Kinder besprochen werden sollten, bei denen das Risiko einer Myopie-Progression besteht oder die Myopie bereits fortschreitet; dies gilt auch für jene Kinder, bei denen die Myopie vor dem Alter von fünf Jahren begonnen hat. Es sind jedoch noch weitere Forschungen erforderlich, um feststellen zu können, ob diese Maßnahmen auch bei Kindern mit zugrunde liegenden Augenerkrankungen oder syndromischen Erkrankungen wirksam sind.7
Über ein Myopie-Management sollte auch bei Kindern beraten werden, bei denen vor dem Alter von 13 Jahren eine Myopie auftritt und keine Notwendigkeit einer Progressions-Überwachung bestand. Die betroffenen Kinder sollten in die Besprechung der verschiedenen Management-Optionen miteinbezogen werden.7
Wie ist der aktuelle Stand bei optischen Behandlungsoptionen?
Kontaktlinsen und Brillengläser können als Erstlinientherapie beim Myopie-Management zum Einsatz kommen; es hat sich gezeigt, dass keine optische Maßnahme einer anderen überlegen ist.16 Deshalb sollten bei Entscheidungen über die am besten geeignete Behandlungsmethode Kinder/Jugendliche, Eltern und Augenspezialist einbezogen und der Lebensstil und die Vorlieben des Kindes berücksichtigt werden. Eine optische Korrektion bei Heterophorie gilt als sichere Methode, wenn eine entsprechende Überwachung der Binokularfunktion erfolgt. Wenn bei einer optischen Korrektion der Myopie astigmatische Fehler nicht vollständig korrigiert werden können, die erzielte Sehschärfe jedoch akzeptabel ist, liegt die Durchführung dieser Behandlungsmöglichkeit im Ermessen des Augenspezialisten.7
Wie ist der aktuelle Stand bei medikamentösen Behandlungsmethoden?
Derzeit ist in Europa keine Atropin-Lösung in einer geringen Konzentration im Handel erhältlich. Sobald niedrig dosierte Atropin-Tropfen auf den Markt kommen, sollten sie beim Myopie-Management als Erst- oder Zweitlinientherapie in Betracht gezogen werden; sie könnten in Kombination mit optischen Behandlungsmethoden eingesetzt werden. Die Risiken und Vorteile einer Behandlung mit Atropin-Tropfen sollten mit der Familie des Kindes besprochen werden, um gemeinsam darüber entscheiden zu können, ob mit der Atropin-Behandlung begonnen wird. In der Expertengruppe gab es eine mäßige Übereinstimmung bei der Befürwortung von folgendem Behandlungsansatz: Kinder, die – ausgehend von Wachstumskurven des Augapfels – ein 95%iges Risiko haben, eine Achsenlänge von mehr als 26 mm zu entwickeln, sollten frühzeitig eine zusätzliche Behandlung bekommen, wenn die Myopie fortschreitet.7
Wie sollten das Fortschreiten und die Behandlung der Myopie überwacht werden?
Vor Beginn einer Behandlung sind, wenn möglich, folgende Messungen durchzuführen: Achslänge ohne Zykloplegie; (Auto)Refraktion/Retinoskopie in Zykloplegie; Nahpunkt und/oder Amplitude der Akkommodation. Messungen der Achslänge ohne Zykloplegie sollten alle sechs Monate erfolgen; die Messergebnisse sollten mit veröffentlichten Kurven des axialen Längenwachstums abgeglichen werden. Wenn für die Achslänge keine Messwerte vorliegen, sollte eine Autorefraktion in Zykloplegie und/oder eine Retinoskopie erfolgen.7 Ist die Sehschärfe mit Sehhilfe schlechter als 0,3 logMar oder um ein bis zwei Zeilen schlechter als der bestkorrigierte Visus, sollte der Augenspezialist die Compliance und andere mitursächliche Faktoren überprüfen und ein Abbrechen dieser Behandlungsoption in Betracht ziehen. Unerwünschte Ereignisse im Rahmen einer optischen/medikamentösen Myopie-Behandlung sind unter Einhaltung der jeweiligen nationalen Meldeverfahren zu dokumentieren.7
Wann weiß man, dass die Behandlung erfolgreich ist?
Wenn das Augenlängenwachstum in einer Wachstumskurve/einem Nomogramm auf eine niedrigere Perzentile sinkt, kann das unter Umständen auf eine erfolgreiche Verlangsamung der Myopie-Progression hinweisen. Eine Progression des in Zykloplegie gemessenen sphärischen Äquivalents um −0,25 dpt oder weniger pro Jahr kann ein Erfolgsindikator sein. Die jährliche Progressionsrate des Längenwachstums und des sphärischen Äquivalents hängt jedoch vom Alter und der ethnischen Zugehörigkeit des Kindes ab, weshalb die Anwendung starrer Schwellenwerte in der Praxis nicht hilfreich ist. Wenn sechs Monate nach Behandlungsbeginn die Verlangsamung der Myopie unzureichend ist, sollte das Problem der Compliance angesprochen werden. Wenn sich trotz guter Compliance nach zwölf Monaten kein Erfolg einstellt, sollte eine medikamentöse Behandlung ins Auge gefasst werden, sobald niedrig dosierte Atropin-Tropfen auf dem Markt zugelassen werden.7
Welche Erst- und Weiterausbildung sollten Augenspezialisten für Myopie-Management absolvieren?
Augenspezialisten sollten eine evidenzbasierte Ausbildung erhalten, die unabhängig von Herstellern von Produkten für das Myopie-Management ist; jene von ihnen, die Behandlungsmaßnahmen verordnen, sollten an entsprechenden Schulungen teilnehmen. Augenspezialisten sollten bei den von ihnen behandelten Kindern auch jährlich die Progressionsrate der Myopie überprüfen.7
Wann kann das Myopie-Management beendet werden?
Gegenwärtig ist es schwer zu sagen, wann genau der beste Zeitpunkt für das Beenden einer Myopie-Behandlung ist. Eine Behandlung der Myopie kann möglicherweise bis ins frühe Erwachsenenalter erforderlich sein, wobei die Überwachung bis zur Stabilisierung der Myopie fortgesetzt werden muss. Die Wiederaufnahme von Behandlungsmaßnahmen ist in Betracht zu ziehen, wenn die Myopie nach einer vorhergehenden Behandlung fortschreitet. Es bedarf weiterer Forschungsergebnisse für das „Ausschleichen“ von niedrig dosierten Atropin-Tropfen, das heißt für eine schrittweise Reduzierung der Lösungskonzentration und/oder der Häufigkeit der Verabreichung.7
Diskussion
Der Konsensbericht von 2024 für Großbritannien und Irland enthält detaillierte und spezifische Empfehlungen für das Myopie-Management bei Kindern und Jugendlichen.
Die interne Validität dieses Konsensberichts wird durch die Methodik gewährleistet: Verwendung der etablierten Delphi-Befragungsmethode und Einbindung von Experten und Stakeholdern aus unterschiedlichsten Bereichen. Von einigen Ausnahmen abgesehen wurden insgesamt ähnliche Empfehlungen wie von anderen nationalen und internationalen Expertengruppen abgegeben. Laut Leitlinien der European Society of Ophthalmology (ESO) spielt beim Myopie-Management die finanzielle Lage der Familien eine Rolle bei der Wahl der Behandlungsmethoden.11,12 So werden in manchen europäischen Ländern sogar die Kosten von Brillengläsern zur Myopie-Korrektur unter Umständen von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet, während in anderen Staaten niedrig dosierte Atropin-Tropfen, die in einer Krankenhausapotheke als Rezepturarzneimittel hergestellt werden, gebührenfrei auf Rezept verordnet werden (EJO, Manuskript eingereicht). In Großbritannien werden keine Behandlungsmethoden für Myopie-Management aus öffentlichen Mitteln finanziert, Standard-Einstärkengläser werden jedoch vom staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) für Kinder und Jugendliche bis zu ihrem 16. Geburtstag (oder 18. Geburtstag, wenn sie im Vollzeitunterricht bleiben) bezahlt. Es ist daher für Familien oft schwierig, sich Behandlungen zum Myopie-Management leisten zu können; die Expertengruppe empfiehlt eine öffentliche Finanzierung mit der Begründung, dass die gute Wirksamkeit/Effektivität ausgewählter Behandlungsmaßnahmen hinlänglich belegt ist. Entscheidungen über eine öffentliche Finanzierung von Myopie-Maßnahmen werden in Europa dadurch erschwert, dass Daten über eine mögliche Reduzierung der langfristigen Gesundheits- und Sozialhilfekosten für Spätkomplikationen im Zusammenhang mit Myopie fehlen. Entsprechende Studien laufen bereits.
So wie in den Leitlinien der ESO und des IMI wird auch im Konsensbericht für Großbritannien und Irland darauf hingewiesen, dass eine früh einsetzende hohe Myopie möglicherweise auf zugrunde liegende Erkrankungen wie Netzhautdystrophien, Bindegewebsstörungen und andere Syndrome 10,11,12 schließen lässt und dass betroffene Kinder an einen Augenarzt zur weiteren Abklärung überwiesen werden sollten. Die jüngste Publikation des IMI zum Management von hoher Myopie enthält nützliche Hinweise,17 die sich auch im Konsensbericht finden: Bei einem reduzierten bestkorrigierten Visus und bei Merkmalen, die mit Grunderkrankungen assoziiert werden, ist eine Überweisung zum Augenarzt gerechtfertigt.
Was die Beurteilung und Überwachung der Myopie betrifft, wird die Messung der Achslänge als exakteste Messmethode angesehen und weitgehend empfohlen; da aber anerkanntermaßen derzeit nur wenige optometrische Praxen über ein Biometer verfügen, wird die Messung des sphärischen Äquivalents in Zykloplegie häufig als Alternative akzeptiert.7,10,11,12
Ein Aufenthalt im Freien von circa zwei Stunden pro Tag oder acht bis 15 Stunden pro Woche wird von allen Expertengruppen zur Erstellung von Leitlinien empfohlen.7,10,11,12,13 Da derzeit aber noch nicht genügend Daten zur Rolle der Naharbeit und der Schreibtischbeleuchtung bei der Entwicklung von Myopie vorliegen, kam die Expertengruppe zu der Ansicht, dazu noch keine Empfehlungen abgeben zu können.7 Richtlinien der ESO, des IMI und in Deutschland enthalten allerdings relevante Empfehlungen zu Naharbeit und Innenraumbeleuchtung.10,11,12,13
Wann beim Myopie-Management mit Behandlungen begonnen werden soll, wird immer noch unter Experten diskutiert. Bei der Definition von Myopie orientiert man sich in der Regel an der Definition des IMI: ab −0,50 dpt liegt eine Myopie vor; das Alter des Kindes/des Jugendlichen muss jedoch auch berücksichtigt werden. Die Myopie schreitet bis zu einem Alter von ca. 12 Jahren am schnellsten fort, weshalb die Expertengruppe in dem Konsensbericht für Großbritannien und Irland Management-Maßnahmen bei Jugendlichen empfiehlt, die vor dem Alter von 13 Jahren eine Myopie aufweisen.7 Bei älteren Kindern ist die Wirksamkeit der Myopie-Maßnahmen gewöhnlich geringer, dennoch wollen sich viele darauf einlassen, um das endgültige Ausmaß der Myopie im Erwachsenenalter zu verringern. Andere Richtlinien enthalten keine Alterskriterien für den Beginn von Management-Maßnahmen.10,11,12,13 Alle Richtlinien stimmen darin überein, dass bei der Wahl der Myopie-Maßnahme der Lebensstil des Kindes und der Familie in Betracht gezogen werden muss;7,10,11,12,13 darüber hinaus empfiehlt die Expertengruppe in dem Konsensbericht für Großbritannien und Irland, das betroffene Kind in die Diskussion über Maßnahmen miteinzubeziehen und dessen Meinung zu respektieren.7
Gegenwärtig liegen keine wissenschaftlichen Belege dafür vor, dass eine Art von Myopie-Maßnahme anderen überlegen ist;7,10,11,12,13 in Richtlinien werden in der Regel Brillengläser, Kontaktlinsen oder niedrig dosierte Atropin-Tropfen als evidenzbasierte Erstlinienmaßnahmen empfohlen.7,10,11,12,13 In dem hier präsentierten Konsensbericht für Großbritannien und Irland war die Expertengruppe mit Empfehlungen zurückhaltend, was niedrig-dosierte Atropin-Tropfen anging; dies war zurückzuführen auf den fehlenden Zugang zu dieser Behandlungsoption in der Praxis und auf die widersprüchliche Evidenzlage zur Wirksamkeit von Atropin-Tropfen in einer Konzentration von 0,001 % und 0,002 % in westlichen Populationen.7 Insgesamt sprechen die Ergebnisse klinischer Studien dafür, dass niedrig dosierte Atropin-Augentropfen wirksam sein können, die optimale Dosierung ist jedoch nach wie vor unklar. Jüngeren Kindern, bei denen die Myopie schneller fortschreitet, nützen möglicherweise Tropfen in einer Konzentration von 0,05 % mehr als 0,01%ige Lösungen;12,18 niedrig dosierte Atropin-Tropfen sind jedoch in Europa im Handel noch nicht erhältlich. Obwohl kommerzielle Atropin-Präparate, die nach strengen Qualitätsmanagement-Standards hergestellt werden, signifikante Vorteile bieten wie die Sicherheit bezüglich Haltbarkeit und ein geringeres Kontaminationsrisiko,14,15 werden in manchen europäischen Krankenhäusern immer noch lokal hergestellte Individualrezepturen verwendet; die Richtlinien in Deutschland enthalten die Rezeptur zur Herstellung von niedrig dosierten Atropin-Augentropfen.13
Experten sind sich immer mehr darüber einig, dass Behandlungen im Rahmen des Myopie-Managements so lange durchzuführen sind, bis sich die Myopie stabilisiert hat; über den genauen Zeitpunkt herrscht jedoch nach wie vor kein Konsens. Laut europäischen Richtlinien stabilisiert sich die Myopie bei 95 % der Betroffenen bis zum Alter von 24 Jahren; ein hilfreiches Kriterium für die Stabilisierung der Myopie ist eine Progression der Achslänge von 0,06 mm oder weniger pro Jahr.12 Für die Beurteilung der Wirksamkeit einer laufenden Myopie-Behandlung sind Wachstumskurven für die axiale Länge, die auf Metaanalyse-Daten von bevölkerungsbasierten Studien basieren, und Vergleiche mit Kontrollgruppen von klinischen Studien hilfreich.19,20
Durch die Unterschiede in der Verfügbarkeit und im Preis von Maßnahmen im Rahmen des Myopie-Managements sowie durch die Unterschiede in den Aufgabenbereichen der Augenspezialisten zwischen den einzelnen Ländern wird die Generalisierbarkeit der Ergebnisse des Konsensberichts 2024 für Großbritannien und Irland eingeschränkt. In Großbritannien erfolgt die Augenbehandlung bei Kindern mit Myopie hauptsächlich durch Optometristen, während hingegen in anderen Ländern Augenärzte und gelegentlich Orthoptisten (EJO, Manuskript eingereicht) diese Aufgabe übernehmen.
Fazit
Da sich die Evidenzlage zur Wirksamkeit und Effektivität von Maßnahmen im Rahmen des Myopie-Managements zunehmend verbessert, zeigt sich in den verschiedenen Staaten auch eine immer größere Übereinstimmung bei den Empfehlungen für die Praxis. Der Konsensbericht 2024 für Großbritannien und Irland, in dem aktuelle Publikationen im Bereich Myopie-Management berücksichtigt wurden, enthält spezifische Hinweise, die für die Praxis nützlich sind.
Danksagungen
A. Dahlmann-Noor wird vom NIHR Moorfields Biomedical Research Centre unterstützt. Die in dieser Übersichtsarbeit geäußerten Meinungen decken sich nicht unbedingt mit den Ansichten der Autoren, des NHS, des NIHR oder des britischen Gesundheitsministeriums. A. Dahlmann-Noor und N. Ghorbani-Mojarrad danken auch allen Teilnehmern und Co-Autoren, die an der hier präsentierten Delphi-Studie über Myopie in Großbritannien und Irland teilgenommen haben.
COE-Fortbildungsprüfung
Die Publikation „Myopie-Management bei Kindern: Delphi-Konsensbericht 2024 für Großbritannien und Irland “ wurde von der Gütegemeinschaft Optometrische Leistungen (GOL) als COE Fortbildungsartikel anerkannt. Die Frist zur Beantwortung der Fragen endet am 1. Juni 2026 Pro Frage ist nur eine Antwort richtig. Eine erfolgreiche Teilnahme setzt die Beantwortung von vier der sechs Fragen voraus.
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